[:de]48 Stunden Neukölln ist so etwas wie eine Institution für Nachwuchskunst und stärkt die lokale Galeriestruktur im trendy Szenebezirk. Für wegweisende Kunst ist das Festival bisher nicht bekannt, sondern eher für künstlerische Auseinandersetzungen mit den Themen der Zeit. Diesmal ist LIVEBOAT-Chapter 5 von Marco Canevacci auf dem Tempelhofer Feld der spannendste Beitrag.
Die andauernde Flüchtlingstragödie über das Massengrab Mittelmeer in Richtung abgeschottetes und militärisch gesichertes Europa wird hier sehr plastisch dargestellt. Ein überdimensionales, transparentes und begehbares Boot ist auf dem ehemaligen Flughafen gestrandet. In seinem Inneren laufen Texte aus Homers Odyssee in Endlosschleife. Der Besucher kann so lange verweilen wir er möchte und dabei unzensierte Aussagen der über das Meer gekommenen Menschen lesen. Hier einige kurze Ausschnitte:
Ali aus dem Niger, 20 Jahre alt, Flüchtling vom Oranienplatz, Asyl in der Kirche:
„Alle Europäer wussten, dass wir mit dem Boot gekommen sind, aber sie hören nicht auf nachzufragen und das bringt nichts. Seit vier Jahren fragen sie laufend, wie seid ihr hergekommen, was habt ihr erlebt oder so was. Mit all dem haben wir bis heute nichts gewonnen, nichts Gutes kam raus um weiter zu kommen, denn man will uns nicht helfen. Das bringt nichts.“
Ibrahim aus dem Tschad, 24 Jahre, Flüchtling vom Oranienplatz, Asyl in der Kirche:
„ (…) Wir waren drei Tage auf dem Boot, dann sind wir in Italien angekommen. Aber in Italien war es nicht gut, denn ich habe dort das Papier nicht bekommen, deshalb bin ich nach Deutschland gekommen. Aber sie haben mir kein Asyl gegeben. Ich bin hierher nach Berlin gekommen und es gab keine Unterkunft und nichts. Die Leute von der Kirche haben uns in einem Haus untergebracht. Wir schlafen nun gut, wir haben zu essen. Das ist gut, alles ist nun gut. Ja, ich bin gerne in Deutschland, und wenn ich das Papier habe, dann ist es gut.“
Selten genug, das den Stimmen der Betroffenen selbst Raum gegeben wird. Wer über die Situation der Menschen in Westafrika und den Gründen ihrer Flucht nach Europa mehr erfahren möchte, sei auch der auf arte ausgestrahlte Film Piroge der Hoffnung empfohlen.
Hier wird klar, dass die von den europäischen Institutionen vorgenommene Unterscheidung in politisch Verfolgte und Wirtschaftsflüchtlinge eine Farce ist. Wer etwa wie die Bevölkerung Westafrikas wegen der Landwirtschafts- und Fischfangpolitik der EU keine Chance mehr hat, seine Familie zu ernähren, muss sein Land verlassen und auf der gefährlichen Überfahrt versuchen, nach Europa zu gelangen und hier Arbeit zu finden. Die moderne und grausame Odyssee geht jeden Tag weiter und wird auch mit militärischen Mitteln nicht aufzuhalten sein, solange es keine Perspektive zum Überleben für die Menschen ausserhalb des abgeschotteten Europa gibt.
LIVEBOAT ist eine gelungene Installation, die Verständnis zur Situation der Menschen in Afrika ins Bewusstsein bisher sich nicht mit dem Thema Immigration beschäftigender Deutscher bringen kann.
Concept: Marco Canevacci
Design: Yena Young
Sound Design: Marco Barotti
Coordination: Steffi Goldmann
Interviews: Hadmut Bittiger
Team: Mirjam Dorsch, Stephanie Grönnert, Hugo Luque, Simone Serlenga, Gabriel Spera
Tempelhofer Feld
Zugänge entlang der Oderstr.
Nach Sonntag 10:00 bis 19:00 Uhr
Bitte empfehlen Sie Berlin Kicks:[:]